60 Kilo Kinnhaken

Anfang des 20. Jahrhunderts in Island, Halgrimur Helgasons Abenteuerroman mit ganz gegenwärtigen Bezügen: Das Fischerdorf Strönd am Segulfjördur wächst schnell und wird zum „Amerika der armen Leute“, der Heringsfang zieht aber auch die Dänen und Norweger an, die Häuser werden zweigeschossig, elektrisches Licht, Telefon und Fotoapparat, sogar ein Auto, halten Einzug. Traditionalisten sind erbost: die Heringsbranche sei der Misthaufen, auf dem die Orte wie Pilze aus dem Boden schießen und mit ihnen die Fliegen und der Gestank sich vermehren, so heißt es etwa in Kapitel 26 mit dem Titel: „Über den isländischen Hass auf verdichtetes Wohnen“. Man habe sich schließlich an althergebrachte Hierarchien zu halten: „Kirche, Kramladen, Holzhaus, Torfkotte, Hund, Katze, Maus, Laus“.

In diesem prosperierenden Ort lebt unser Held Gestur, 18 Jahre alt, ein „Prolet aus dem Torfkotten“, der schon jetzt für den Lebensunterhalt seiner ganzen Stieffamilie verantwortlich ist. Er ist kein Haudegen, „heiratsfähig, aber schüchtern“ und doch ständig auf aventiure-Fahrt, in Liebesdingen unterwegs: Als er sein erstes Mal erlebt, auf isländisch heißt es „trockengelegt“ wird, liegt er im Heu und die Schafe sind Zuschauer. „Ihre Vorstellung war komplett ausverkauft. 30 Schafe waren dabei. Die Liebe ist sprachlos, das Leben sagt „Mäh!“

In diesem irrwitzigen Abenteuerroman geht es um familiäre (Vater gesucht) und amouröse Verwicklungen (Frau gesucht), 2 Hochzeiten und ein Todesfall, 1 Hochzeit, die unmittelbar vor dem Ja-Wort ein jähes Ende findet („Der Hering ist da!“), es geht um isländische Sagen, um Schicksalsschläge, einen Mord, der nicht gesühnt wird, Lawinen, die ganze Familien auslöschen, die Diphterie grassiert,

doch: keine Trauer greift Platz, es ist der Trotz und der Witz, der die Figuren am Leben hält – „Das Leben geht weiter“ ist die Botschaft – und es ist ein Erzähler, der uns all das verkündet mit einem Schalk im Nacken, mit einem Humor, der sich selbst verlacht und mit einem manchmal philosophischen, scheinbar naiven, fast tolpatschig kindlichen Blick auf ein Dorf in Island vor 100 Jahren, als wäre es niemals nicht da gewesen.

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